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Sex matters: Wie Kinder spüren lernen

Eine gutes Körpergefühl macht selbstbewusst, sagt der Sexualtherapeut Carsten Müller. Warum es vielen Kleinkindern daran fehlt und wie man es fördern kann – eine Kolumne.
Kind steht barfuß auf einem Baumstamm
Den Wald unter den Füßen spüren – das ist heute eher unüblich. (Symbolbild)

»Ich bin Erzieher. Seit einiger Zeit fällt mir auf, dass viele Kinder in meiner Gruppe wenig Gefühl für ihren Körper haben. Das merke ich daran, dass sie zum Beispiel kaum Körperspannung haben. So etwas wie Balancieren fällt ihnen schwer. Oder so einfache Dinge wie ein verschmierter Mund oder kalte Hände: Manche spüren das gar nicht. Ich frage mich, woran das liegt und was wir als Pädagogen oder auch die Eltern tun können, um den Kindern ein besseres Körpergefühl zu vermitteln.« (Emilio*, 31)

Falls Sie sich fragen, was dieses Thema in einer Kolumne über Sexualität zu suchen hat: Es gehört zu den Zielen der sexuellen Bildung, ein positives Körpergefühl zu entwickeln. In der Kindheit lernt man, den eigenen Körper wahrzunehmen. Das ist für die Entwicklung wichtig und hat ein Leben lang großen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Ein positives Körpergefühl ist auch ein wichtiger Baustein in der Prävention sexualisierter Gewalt. Wer angenehme Gefühle kennt und sich selbst als wertvoll erlebt, kann sich besser von allem abgrenzen, was sich nicht gut anfühlt, und im Idealfall fällt es dann auch leichter, davon berichten.

Es war bei einem Informationsabend, als der Erzieher seine Beobachtungen zum Körpergefühl der Kinder schilderte. Wir fragten uns: Woran könnte es liegen, dass die Körperwahrnehmung der Zwei- bis Vierjährigen heute geringer oder anders ist, als die von Gleichaltrigen es früher war? Ich erkläre es mir so: Diese Kinder waren während der Corona-Pandemie Babys oder Kleinkinder. Sie haben viel Körperliches verpasst. Krabbelgruppen, Babymassage, Kinderschwimmen – alles ausgefallen. Die Kita war auf Notbetreuung reduziert. Zeitweise durften Eltern mit ihren Kleinkindern nicht einmal Spielplätze betreten. Solche Einschränkungen wirken sich massiv auf das Körpergefühl der Kinder aus.

Mit den körperlichen Folgen der Corona-Pandemie beschäftigte sich auch eine aktuelle Untersuchung. Die Studie »Kinder in Deutschland« hat die Entwicklung von mehr als 7800 Kindern von der Geburt bis zum Alter von drei Jahren dokumentiert. Heraus kam, dass fast ein Zehntel der Kleinkinder körperlich nicht altersgerecht entwickelt waren. Unter denen, die in Armut aufwuchsen, waren es sogar 13,5 Prozent. Armut bedeutet: kein Garten, wenig Platz für Bewegung und viel Zeit vor dem Bildschirm.

Das Körpergefühl fördern

Um diese Kinder müssen wir uns jetzt besonders kümmern. Geben wir ihnen die Möglichkeit, sich selbst wahrzunehmen! Wie fühlt sich etwas an? Und was fühlt sich gut an? Zum Beispiel Kleidung: Wie bequem ist sie? Welcher Pullover ist besonders flauschig? Dieses Bewusstsein brauchen wir Menschen, um uns für oder gegen etwas entscheiden zu können – wie beim Essen: Paprika finde ich lecker, Rosenkohl nicht! Wenn ich weiß, was ich mag, kann ich sicherer benennen, was sich nicht gut anfühlt.

Körperwahrnehmung beginnt schon auf dem Wickeltisch. Eine warme Hand auf dem Bauch lässt Babys spüren, dass sie körperlich sind. Ein Fühlmemory für Kleinkinder zeigt, was sich weich anfühlt, was rau ist und was vielleicht ganz schön pikst.

Eltern und Erziehende können auch durch Gespräche Möglichkeiten schaffen, das Körperbewusstsein zu fördern. Sprechen Sie mit den Kindern darüber, was der Körper gerade geleistet hat: »Hey, das war richtig anstrengend – da haben deine Muskeln super gearbeitet! Und jetzt darfst du dich ausruhen und erholen.« So nehmen Kinder den Wechsel von Anspannung und Entspannung bewusster wahr.

Motivieren Sie die Kinder, etwas auszuprobieren. »Du kannst da raufklettern, weil du dich gut festhalten kannst«, vermittelt ein positives Körperbild. Das macht zufrieden. Dann braucht es kein: »Pass auf, du könntest herunterfallen!« Natürlich wird es auch Frustmomente geben. Das gehört dazu. Sie sind zwar im ersten Moment nicht gerade schön, aber insgesamt wertvoll, weil danach der Stolz umso größer ist, wenn es schließlich klappt. Die Kinder merken: Mein Körper kann etwas, was er gestern noch nicht konnte.

Am Infoabend habe ich mit dem Team der Kita auch darüber gesprochen, wie sie die Körperwahrnehmung im Kita-Alltag fördern können. Zum Beispiel mit einfachen Fragen: Was passiert in deinem Körper, wenn du schaukelst? Wie fühlt es sich an, wenn du rutschst? Ist es ein Unterschied, ob du mit Socken oder mit Schuhen über den Boden läufst, und was ist angenehmer? Diese Sensibilität zu fördern ist wichtig für die spätere Körperwahrnehmung.

Ein Spiegel zum Entdecken

Das Selbstbild ist ein Teil davon. In einem Ganzkörperspiegel können Kinder erforschen, wie sie aussehen. Ich empfehle Eltern gerne, einen Spiegel im Kinderzimmer aufzuhängen – natürlich so, dass die Kinder sich darin sehen können. Und im Badezimmer einen Handspiegel hinzulegen, mit dem sie ihre Genitalien erkunden können. Wo kommt eigentlich das Pipi raus und wo die Kacke? Interessante Fragen, die das Bewusstsein für den eigenen Körper fördern. Mit ungefähr drei Jahren kommt die Neugier darauf ganz von selbst.

Wenn Spiegel positiv eingesetzt werden, helfen sie Kindern beim Entdecken. Wir Erwachsene hingegen urteilen schnell nach bekannten Mustern. Selbst bei den kinderärztlichen Untersuchungen geht es darum, was innerhalb der Norm liegt.

Versuchen wir, solche Normwerte nicht so hochzuhängen. Bewerten wir nicht, wie Kinder aussehen. Alle sollten die Möglichkeit haben, ihre Individualität zu entdecken und zu feiern. Es geht nicht darum, ob wir dünn, dick, groß oder klein sind. Sondern darum, sich im eigenen Körper richtig wohl zu fühlen. Eine große Aufgabe, die nicht immer gelingen wird. Aber das ist das Ziel. Denn jeder Mensch ist einzigartig, und das ist gut so.

*Name geändert

Und nun sind Sie dran: Den Körper spüren

Gehen Sie im Alltag auf Spurensuche. Wann und wo haben Ihre Kinder die Möglichkeit, sich selbst bewusst wahrzunehmen? Gibt es zum Beispiel einen Spiegel im Kinderzimmer? Schauen Sie sich auch einmal selbst an. Wann und wie tun Sie sich und Ihrem Körper etwas Gutes? Suchen Sie nach diesen Momenten und nehmen Sie bewusst wahr, was Ihnen so richtig guttut.

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