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Mathematische Physik: Eine neue Art der Symmetrie

Symmetrie bedeutet, dass man weniger Details im Blick behalten muss – in der Teilchen- und Quantenphysik genauso wie beim Fliesenlegen. Mit »höheren Symmetrien« wurde ein neues Ordnungsprinzip entdeckt.
Ein dreidimensionales, buntes, symmetrisches Muster
Wenn man die Symmetrien eines physikalischen Systems kennt, lässt es sich wesentlich einfacher untersuchen.

Jeder bedeutende Fortschritt in der theoretischen Physik der letzten 100 Jahre hängt mit Symmetrien zusammen. Sie waren bei der Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie, bei der Ausarbeitung des Standardmodells und bei der Jagd nach dem Higgs-Teilchen beteiligt. Nun könnten Symmetrien über die gesamte Physik hinweg noch wichtiger werden.

Auslöser dafür ist die 2014 veröffentlichte Arbeit »Generalized Global Symmetries«, in der die Autoren Nathan Seiberg, Davide Gaiotto, Anton Kapustin sowie Brian Willett zeigten: Die wichtigsten Symmetrien der Physik des 20. Jahrhunderts lassen sich verallgemeinern – und sind in Quantenfeldtheorien anzutreffen. Diese stellen den grundlegenden theoretischen Rahmen dar, mit dem Physiker heute arbeiten.

Die neue Beschreibung offenbarte, dass unterschiedliche Beobachtungen der letzten 40 Jahre in Wirklichkeit Ausdruck ein und derselben versteckten Symmetrie sind. Damit haben Fachleute ein Ordnungsprinzip zur Hand, mit dem sie Phänomene besser verstehen und kategorisieren können.

Das 2014 beschriebene Prinzip wurde unter der Bezeichnung »höhere Symmetrien« bekannt. Der Name drückt aus, dass sich die Symmetrien auf höherdimensionale Objekte (wie Linien) und nicht auf niederdimensionale (wie Teilchen an einzelnen Punkten) beziehen. Die Arbeit gab der Symmetrie einen Namen und lieferte eine Sprache mit. Und sie identifizierte Schauplätze, an denen sie bereits beobachtet wurde. Physikerinnen und Physiker veranlasste das, nach weiteren Orten zu suchen, wo die neue Symmetrie auftreten könnte. Gemeinsam mit Mathematikern erarbeiteten die Autoren der Publikation die algebraischen Eigenschaften dieser Strukturen. In einigen Fällen scheinen die symmetrischen Transformationen unumkehrbar – ein bemerkenswerter Unterschied zu allen anderen Symmetrien in der Physik.

»Indem wir ein bekanntes physikalisches Problem aus einem anderen Blickwinkel betrachten, haben wir ein riesiges neues Gebiet erschlossen«Sakura Schafer-Nameki, Physikerin

Gleichzeitig haben Fachleute die höheren Symmetrien genutzt, um eine Vielzahl von offenen Fragen zu beantworten – von der Zerfallsrate bestimmter Teilchen bis hin zu neuartigen Phasenübergängen wie dem so genannten fraktionalen Quanten-Hall-Effekt. »Indem wir ein bekanntes physikalisches Problem aus einem anderen Blickwinkel betrachten, erschließen wir ein riesiges neues Gebiet«, sagt Sakura Schafer-Nameki, Physikerin an der University of Oxford in England.

Wieso ist Symmetrie so wichtig?

Um zu verstehen, warum eine einzelne Publikation, die lediglich auf die vielen, überall lauernden Symmetrien hinweist, so große Auswirkungen hat, muss man zunächst einmal nachvollziehen, wie symmetrische Strukturen das Leben in der Physik erleichtern. Sie haben nämlich zur Folge, dass man weniger Details im Blick behalten muss. Das gilt sowohl in der Hochenergiephysik als auch beim Verlegen von Badezimmerfliesen.

Die Symmetrien einer Fliese sind räumlicher Natur – jedes Exemplar kann um einen bestimmten Winkel gedreht oder an eine andere Stelle verschoben werden und passt weiterhin ins Gefüge. In der Physik spielen räumliche Symmetrien ebenfalls eine wichtige Rolle – zum Beispiel in Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. Da in unserem Universum Symmetrien vorherrschen, müssen sich Forschende um bestimmte Dinge weniger Gedanken machen.

»Wenn man ein Experiment im Labor durchführt und den Versuchsaufbau dreht, sollte sich das Ergebnis nicht ändern«, sagt Nathan Seiberg, theoretischer Physiker am Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey. Zusammen mit Davide Gaiotto vom kanadischen Perimeter Institute, Anton Kapustin vom California Institute of Technology und Brian Willett, damals Postdoc am Institute for Advanced Study, hat er die Studie von 2014 verfasst.

Die inzwischen wichtigsten Symmetrien der Physik sind allerdings subtiler als die räumlichen. Gleichwohl haben sie dieselbe Auswirkung: Sie beschreiben, unter welchen Bedingungen ein System gleich aussieht.

Die Mathematikerin Emmy Noether formulierte 1915 die Beziehung zwischen Symmetrien und Erhaltungsgesetzen. Symmetrien in der Zeit – die bedeuten, es ist egal, ob man ein Experiment heute oder morgen durchführt – implizieren zum Beispiel mathematisch gesehen das Gesetz der Energieerhaltung. Rotationssymmetrien hingegen führen zur Drehimpulserhaltung. »Jeder Erhaltungssatz ist mit einer Symmetrie verbunden, und jede Symmetrie mit einem Erhaltungssatz«, sagt Seiberg. »Das ist gut verstanden und sehr bedeutsam.«

Allerdings sind Erhaltungssätze nur eines von vielen Beispielen dafür, wie Symmetrien dabei helfen, das Universum zu verstehen. Fachleute würden gerne eine Taxonomie physikalischer Systeme erstellen, die Gleiches zu Gleichem gruppiert. So würden sie wissen, welche Erkenntnisse aus einem System sich auf ein anderes übertragen lassen. Symmetrien sind ein hilfreiches Ordnungsprinzip: Alle Objekte, die dieselbe Symmetrie aufweisen, gehören in denselben Topf.

Sobald man erkennt, dass ein System eine bestimmte Symmetrie besitzt, kann man sich einen Großteil der mathematischen Arbeit sparen, um sein Verhalten beschreiben. Die Symmetrien schränken die potenziellen Zustände des Systems ein – das heißt, sie begrenzen die Lösungen der komplizierten, zu Grunde liegenden Gleichungen.

»Normalerweise sind einige physikalische Gleichungen unlösbar. Hat man aber genügend Symmetrie, dann sind die Antwortmöglichkeiten eingeschränkt. Man kann dann sagen, die Lösung muss so aussehen, weil es die einzige symmetrische Möglichkeit ist«, sagt Theo Johnson-Freyd vom Perimeter Institute for Theoretical Physics in Waterloo.

Über Felder und Linien

So elegant Symmetrien auch sind, ihr Vorhandensein ist nicht immer offensichtlich. Stattdessen kann es passieren, dass man eigentlich verwandte Phänomene zunächst als unterschiedlich betrachtet. Das geschah beispielsweise bei einer Reihe von Beobachtungen in den frühen 1970er Jahren.

Die Erhaltungssätze und Symmetrien der Physik des 20. Jahrhunderts gehen von punktförmigen Elementarteilchen aus. In modernen Quantenfeldtheorien jedoch sind Quantenfelder die grundlegenden Objekte, und Teilchen entsprechen lediglich Schwankungen in diesen Feldern. Bei solchen Theorien ist es oft nötig, über punktförmige Strukturen hinauszugehen und eindimensionale Linien zu betrachten (die sich aber konzeptionell von den Strings der Stringtheorie unterscheiden).

1973 führten Physiker ein Experiment durch, bei dem sie ein supraleitendes Material zwischen die Pole eines Magneten legten. Als sie die Stärke des Magnetfelds erhöhten, ordneten sich Teilchen im Material entlang eindimensionaler supraleitender Fäden an, die zwischen den Magnetpolen verliefen. Ein Jahr später entdeckte Kenneth Wilson eindimensionale Objekte im Rahmen des klassischen Elektromagnetismus, so genannte Wilson-Linien. Solche »Strings« tauchen ebenfalls bei der starken Wechselwirkung zwischen Quarks auf, den Elementarteilchen, aus denen Protonen und Neutronen bestehen: Trennt man ein Quark von seinem Antiquark, bildet sich zwischen ihnen eine Art Faden, der sie wieder zusammenzieht.

Strings spielen also in vielen Bereichen der Physik eine wichtige Rolle. Gleichzeitig passen sie aber nicht zu den traditionellen Erhaltungsgesetzen und Symmetrien, die durch punktförmige Teilchen ausgedrückt werden. »Wir sind nicht nur an den Eigenschaften von Punkten interessiert, sondern auch an denen von Linien oder Strings, für die es ebenfalls Erhaltungssätze geben kann«, sagt Seiberg.

In ihrer Arbeit stellten Seiberg und seine Kollegen eine Möglichkeit vor, die Ladung entlang eines Strings zu messen und festzustellen, ob sie erhalten bleibt, wenn sich das System verändert. Das ist vergleichbar mit der Gesamtladung von Teilchensystemen, die stets gleich ist. Um das zu untersuchen, wandten sich die Forscher von den Fäden selbst ab: Sie stellten sich vor, die eindimensionale Linie sei von einer Oberfläche umgeben, einer zweidimensionalen Ebene. Der String sieht dann wie eine auf ein Blatt Papier gezeichnete Linie aus. Anstatt die Ladung entlang des Fadens zu messen, entwickelten sie eine Methode, mit der sich die Gesamtladung auf der Oberfläche bestimmen lässt, die den Faden umschließt.

»Das wirklich Neue daran ist, dass man das geladene Objekt hervorhebt und über die Oberflächen nachdenkt, die es umgeben«, sagt Schafer-Nameki. Die vier Autoren überlegten dann, was mit der Oberfläche drum herum passiert, wenn sich das System weiterentwickelt. Verzieht oder verdreht sie sich?

»Die Mechanik eines supraleitenden Strings und eines Fadens der starken Wechselwirkung sind völlig unterschiedlich, aber ihre Mathematik ist gleich«Nathan Seiberg, theoretischer Physiker

Die Gruppe konnte schließlich zeigen: Die Gesamtladung entlang der Oberfläche bleibt gleich, selbst wenn diese sich verformt. Das bedeutet: Misst man die Ladung an jedem Punkt auf einem Stück Papier, verformt dieses dann und führt die Messung danach erneut durch, erhält man den gleichen Wert. Die Ladung bleibt auf der Oberfläche. Und da diese an den Faden gekoppelt ist, bleibt die Ladung auch entlang des Strings erhalten – unabhängig davon, um welche Art von Faden es sich handelt.

»Die Mechanik eines Strings in der Supraleitung und eines in der starken Wechselwirkung sind völlig unterschiedlich, aber ihre Mathematik und die Erhaltungssätze sind genau gleich«, sagt Seiberg. »Das ist das Schöne an dieser ganzen Idee.«

Ungleiche, aber äquivalente Oberflächen

Die Vorstellung, dass eine Oberfläche nach ihrer Verformung gleich bleibt (also dieselbe Ladung trägt), erinnert an ein Konzept aus der Topologie. In dieser mathematischen Lehre werden Flächen danach klassifiziert, ob sie sich ineinander umwandeln lassen, ohne zu zerreißen. Aus topologischer Sicht sind eine perfekte Kugel und ein verbeulter Ball gleich, da man Letzteren aufblasen kann und so eine Kugel erhält. Anders sieht es bei einem Schlauch aus. Diesen kann man nur durch Einschnitte in eine Kugel konstruieren.

Ähnliche Überlegungen zur Äquivalenz gelten für die Oberflächen von Strings – und damit für die dazugehörigen Quantenfeldtheorien, schreiben Seiberg und seine Mitautoren. Sie bezeichnen ihre Methode zur Ladungsmessung als topologischen Operator. Das Wort »topologisch« drückt aus: Man kann unbedeutende Unterschiede zwischen einer ebenen und einer verkrümmten Oberfläche vernachlässigen. Wenn man die Ladung auf beiden Oberflächen misst und das Ergebnis dasselbe ist, weiß man, dass sich die zwei Systeme reibungslos ineinander überführen lassen.

Die Topologie ermöglicht es Mathematikern, über kleine Unterschiede hinwegzusehen und sich auf grundlegende Eigenschaften zu konzentrieren, die bei verschiedenen Formen gleich sind. In ähnlicher Weise bieten höhere Symmetrien eine neue Möglichkeit, Quantensysteme zu kategorisieren, so die Autoren. Diese Systeme mögen völlig verschieden aussehen, aber im Grunde gehorchen sie denselben Regeln. Höhere Symmetrien können das offenlegen – und auf diese Weise lässt sich das Wissen über gut verstandene Modelle auf andere anwenden.

»Die Entwicklung all dieser Symmetrien ist wie die Entwicklung einer Reihe von Identifikationsnummern für ein Quantensystem«, sagt der theoretische Physiker Shu-Heng Shao von der Stony Brook University in New York. »Manchmal stellt sich heraus, dass zwei scheinbar nicht miteinander verbundene Quantensysteme die gleichen Symmetrien haben. Das deutet dann darauf hin, dass es sich um dasselbe Quantensystem handeln könnte.«

Von neuen Symmetrien zu einer neuen Mathematik

Trotz der erstaunlichen Erkenntnisse über Strings und Symmetrien in Quantenfeldtheorien zeigte die Publikation von 2014 keine bahnbrechenden Anwendungsmöglichkeiten auf. Zunächst waren höhere Symmetrien nur dazu geeignet, bereits bekannte Dinge neu zu charakterisieren. Seiberg erinnert sich: Er war enttäuscht, weil man nicht mehr tun konnte: »Ich weiß noch, wie ich umher ging und dachte, ›wir brauchen eine Killerapplikation‹.«

Um eine »Killerapplikation« zu entwickeln, benötigt man eine geeignete Programmiersprache. In der Physik ist das die Mathematik. Sie erklärt auf formale Weise, wie Symmetrien zusammenwirken. Nach der wegweisenden Veröffentlichung untersuchten Fachleute beider Fächer, wie sich höhere Symmetrien in Form von mathematischen Objekten, so genannten Gruppen, ausdrücken lassen. Gruppen sind die grundlegende Struktur, mit der Symmetrien beschrieben werden. Eine Gruppe codiert dabei alle Kombinationsmöglichkeiten der Symmetrien einer Form oder eines Systems. Sie legt die Regeln fest, nach denen die Zusammenhänge funktionieren, und zeigt die Zustände auf, die das System nach Symmetrietransformationen einnehmen kann und welche es nicht einnehmen kann.

Die Codierung von Gruppen wird in der Sprache der Algebra ausgedrückt. So wie beim Lösen einer algebraischen Gleichung die Reihenfolge eine Rolle spielt (4 geteilt durch 2 ist nicht dasselbe wie 2 geteilt durch 4), zeigt die algebraische Struktur einer Gruppe, welche Bedeutung die Reihenfolge bei Symmetrietransformationen hat, beispielsweise Drehungen.

Theo Johnson-Freyd | ist Mathematiker am Perimeter Institute for Theoretical Physics.

»Das Verständnis der algebraischen Beziehungen zwischen den Transformationen ist eine Voraussetzung für jede Anwendung«, sagt Clay Córdova von der University of Chicago. »Man kann nicht begreifen, wie die Welt durch Drehungen beschränkt wird, solange man nicht versteht, was Drehungen sind.«

Bei der Untersuchung dieser Zusammenhänge entdeckten zwei unterschiedliche Teams (eines, an dem Córdova und Shao beteiligt waren, und eines, dem Forscher von der Stony Brook University und von der Universität Tokio angehörten) Erstaunliches: Selbst in realistischen Quantensystemen gibt es unumkehrbare Symmetrien. Damit erfüllen sie nicht die Gruppenstruktur, in die sonst jede andere wichtige Symmetrie der Physik passt. Stattdessen werden diese seltsamen Symmetrien von verwandten mathematischen Objekten beschrieben, so genannten Kategorien. Für diese gelten lockerere Regeln, was die Kombinationsmöglichkeiten von Symmetrien anbelangt.

In einer Gruppe muss zum Beispiel jede Symmetrie eine umgekehrte Symmetrie haben. Es braucht also eine rückgängig machende Operation, die das Objekt, auf das sie einwirkt, zum Ausgangspunkt zurückschickt. In zwei separaten Arbeiten, die 2022 veröffentlicht wurden, zeigten die beiden Forschungsteams jedoch, dass einige höhere Symmetrien nicht umkehrbar sind. Wenn man sie also einmal auf ein System anwendet, kann man nicht mehr zum ursprünglichen Zustand zurückkehren.

Diese Unumkehrbarkeit spiegelt die Art und Weise wider, wie eine höhere Symmetrie ein Quantensystem in einen überlagerten Zustand bringen kann. Wahrscheinlichkeitstheoretisch stellt das System dann mehrere Dinge gleichzeitig dar; von hier aus gibt es keinen Weg zurück in das ursprüngliche System. Um das komplizierte Zusammenwirken von höheren Symmetrien und unumkehrbaren Symmetrien zu erfassen, haben Forschende, darunter Johnson-Freyd, ein neues mathematisches Objekt entwickelt – die »höhere Fusionskategorie«.

»Sie ist das mathematische Gebilde, das die Fusionen und Wechselwirkungen all dieser Symmetrien beschreibt«, erklärt Córdova. »Sie zeigt alle algebraischen Möglichkeiten, wie die Symmetrien zusammenwirken können.« Höhere Fusionskategorien helfen dabei, die unumkehrbaren Symmetrien zu definieren, die mathematisch möglich sind. Sie sagen jedoch nichts darüber aus, welche davon in physikalischen Situationen nützlich sind. Sie legen lediglich die Parameter für die Suche fest, auf die sich Fachleute dann begeben. »Für mich als Physikerin ist das Spannende die Physik, die wir dabei entdecken. Es sollte nicht nur um die Mathe der Mathe willen gehen«, findet Schafer-Nameki.

Frühe Anwendungen

Ausgestattet mit dem Wissen um höhere Symmetrien haben Forscherinnen und Forscher auch altbekannte Phänomene untersucht. In den 1960er Jahren bemerkten Physiker zum Beispiel eine Diskrepanz bei der Zerfallsrate eines Teilchens namens Pion: Theoretische Berechnungen stimmten nicht mit experimentellen Beobachtungen überein. 1969 schienen zwei Veröffentlichungen den Widerspruch aufzulösen. Sie zeigten, dass die Quantenfeldtheorie, die den Pionenzerfall bestimmt, nicht die Symmetrie aufweist, die man ihr zugeschrieben hatte. Und ohne diese Symmetrie verschwand die Ungereimtheit.

»Die Entwicklung all dieser Symmetrien ist wie die Entwicklung einer Reihe von Identifikationsnummern für ein Quantensystem«Shu-Heng Shao, theoretischer Physiker

Doch im Mai 2022 bewiesen drei Physiker, dass die Erklärung von 1969 nur die halbe Wahrheit war. Wenn man höhere Symmetrien in das theoretische Bild miteinbezog, stimmten die vorhergesagten und beobachteten Zerfallsraten exakt überein. »Wir können das Rätsel des Pionenzerfalls neu interpretieren, und zwar nicht durch das Fehlen einer Symmetrie, sondern durch das Vorhandensein einer neuen Art von Symmetrie«, sagt Shao, einer der Autoren der Studie.

Einen ähnlichen Fall gab es in der Festkörperphysik. Phasenübergänge treten auf, wenn ein physikalisches System von einem Materiezustand in einen anderen übergeht. Auf formaler Ebene gibt es hier einen Bruch: Symmetrien, die es in einer Phase gab, werden in der nächsten nicht mehr erfüllt.

Auf die Reihenfolge kommt’s an | Man drehe ein Objekt – etwa eine Kugel mit Markierungen – zunächst um 90 Grad um eine Achse und anschließend um 180 Grad um eine andere. Führt man nun die gleichen Rotationen in umgekehrter Reihenfolge durch, kommt man zu einem anderen Ergebnis.

Aber nicht alle Phasen lassen sich so beschreiben. Beim fraktionalen Quanten-Hall-Effekt kommt es zum Beispiel zu einer spontanen Umordnung der Elektronen, ohne dass eine Symmetrie offensichtlich gebrochen wird. Das machte den Effekt zu einem unliebsamen Ausreißer innerhalb der Theorie der Phasenübergänge. Bis Xiao-Gang Wen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) 2018 in einer Arbeit feststellte, dass der Quanten-Hall-Effekt tatsächlich eine Symmetrie bricht – nur eben keine herkömmliche. »Man kann ihn als symmetriebrechend bezeichnen, wenn man den Begriff der Symmetrie verallgemeinert«, sagt Ashvin Vishwanath von der Harvard University in Cambridge.

Diese ersten Anwendungen höherer und unumkehrbarer Symmetrien – auf die Pion-Zerfallsrate und auf das Verständnis des fraktionalen Quanten-Hall-Effekts – fallen allerdings relativ bescheiden aus im Vergleich zu dem, was Fachleute noch erwarten. In der Festkörperphysik hofft man etwa, dass höhere und unumkehrbare Symmetrien helfen könnten, alle möglichen Phasen der Materie zu identifizieren und zu klassifizieren. Und in der Teilchenphysik rechnen die Forschenden mit Hilfe bei der Lösung einer der größten offenen Fragen überhaupt: Welche Prinzipien organisieren die Physik jenseits des Standardmodells?

»Ich möchte das Standardmodell aus einer konsistenten Theorie der Quantengravitation heraus entwickeln, und diese Symmetrien spielen dabei eine entscheidende Rolle«, sagt die Physikerin Mirjam Cvetic von der University of Pennsylvania.

Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sich ein erweitertes Verständnis von Symmetrie und eine umfassende Vorstellung davon, was Systeme gleich macht, durchsetzt. Die Bemühungen vieler Fachleute zeigen: Es könnte sich lohnen.

»Ich habe bislang keine sensationellen Ergebnisse gesehen. Aber ich zweifele nicht daran, dass diese sehr wahrscheinlich kommen werden«, sagt Seiberg. Denn höhere Symmetrien seien eindeutig ein viel besserer Weg, um über etliche physikalische Probleme nachzudenken.

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  • Quellen

Choi, Y. et al.: Noninvertible global symmetries in the standard model. Physical Review Letters 129, 2022

Choi, Y. et al.: Noninvertible duality defects in 3+1 dimensions. Physical Review D 105, 2022

Gaiotto, D. et al.: Generalized global symmetries. Journal of High Energy Physics 172, 2015

Kaidi, J. et al.: Kramers-Wannier-like duality defects in (3+1)D gauge theories. Physical Review Letters 128, 2022

Wen, X.-G.: Emergent (anomalous) higher symmetries from topological orders and from dynamical electromagnetic field in condensed matter systems. Physical Review B 99, 2019

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